Von Dr. Faustus bis zum Schwäbischen Eton

Maulbronn blieb immer im Fluß der Geschichte
Eine Reiseskizze von Theodor Heuss

 
   
    Am 31. Januar 1984 jährt sich zum hundertsten Mal der Geburtstag des ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss. Um auch einmal an sein Wirken als Historiker und Schriftsteller zu erinnern, veröffentlichen wir einige im Herbst 1923 geschriebene Betrachtungen über das Kloster Maulbronn aus seinem Buch „Von Ort zu Ort – Wanderungen mit Stift und Feder“. Rainer Wunderlich Verlag, 1959. Der Verlag, der das schriftstellerische Werk von Theodor Heuss betreut, hat in diesen Tagen sowohl eine populäre Biographie als auch eine repräsentative einbändige Werkauswahl herausgebracht.  
   

 Über den Eilfinger Berg stiegen wir in einer milden Sonne zum See hinab, zwischen den Rebstöcken, in einiger Sorge, daß Regen und Sonne an den Trauben noch ihr gutes Werk tun.

  In dieser Ecke Württembergs, die zum nördlichen Schwarzwald guckt und in den badischen Kraichgau ihre Hügel laufen läßt, nach Bretten und Bruchsal, begegnen sich seltsame Geister. Sie ist dem eigentlichen Weinland schon etwas entrückt; aber mit einer letzten Anstrengung haben es die schwäbischen Weine hier erreicht, „flaschenreif“ zu werden und ihre Spitze zu finden. [...] Da ist das Kloster, und es gibt keine schönere Klosteranlage als diese in ganz Deutschland, oder doch keine, der Mittelalter und spätere Zeitläufe der Geschichte so lebendig und treu bleiben, ohne zum Museum zu erstarren. Maulbronn, das die Zisterzienser nach ihrer Art in ein abgelegenes, wasserreiches Tal gestellt hatten, blieb immer im Fluß der Geschichte. Hier war der Nekromant und Zauberer Johannes Faust, ein Sohn des benachbarten Ackerstädtchens Knittlingen, der Gast der Mönche; hier, in diesen Stuben, saß der junge Kepler über den Schulbüchern; hier, unter diesen Linden, die uralt und mächtig ihre Kronen in die Höhe und Weite dehnen, träumte wohl Hölderlin zu der Musik des nie ermüdenden Brunnens – die erste Liebe band damals das Herz des Knaben.

  Als die Mönche, unter Speyers Schirm, ihr Werk begannen, den Wald rodeten, die Seen stauten, erstellten sie eine große Basilika, in hellem Sandstein; den brachen sie aus der dicht anstehenden Talwand und fügten ihn in schöne glatte Quadern. Die großen Maße eines strengen, kubischen Empfindens bestimmten den romanischen Baukörper; die später eingezogene gotische Decke nimmt der Wandung nichts von ihrer einfachen Wucht. Aber nun kommt, als der Bruder Bohnensack vor die Hauptpforte einen Vorraum, das Paradies, aufzurichten beginnt, ein Anhauch aus dem Westen durch das geöffnete Tal, wohl vom Burgundischen her. Die Steine wollen sich lockern, die Säulen sich strecken, die Wölbungen freier sein, der Raum wird zur Halle.

  Fast glaubt man zu spüren, wie der bauende Bruder etwas erschrocken ist über sein Unterfangen, er gibt den Säulen eine Zwischenbasis, er sorgt für Sockel und Gesimse – aber das Neue ist da, ist hier, ist im Südteil des Kreuzganges, ist in dem hochgetriebenen Herrenrefektorium, wo man mit vorsichtigen, seltsamen Wülsten, mit Stützen und Konsolen noch an die Schwere des Steines geklammert scheint und doch alles Raumempfinden schon von der Gotik gesegnet ist. Die Kunstgelehrten haben darüber viel geschrieben, die Architekten mit ihren Zusatzbemerkungen und statischen Überlegungen nicht gespart – das hat uns in diesen Tagen nicht sehr bewegt.

 

 

  Doch dem blieb im Wandern durch den Kreuzgang das Empfinden immer geöffnet: wie es etwas Wunderbares ist, wenn jeder Schritt fast in eine neue Darstellung sich entfaltender Seele tritt. Dieser Kreuzgang ist ganz und gar nicht stilrein; er kann als Fibel der Stilgeschichte dienen und steht als solche bei den Professoren der umliegenden Hochschulen in großer Schätzung; doch gibt es nichts, das so rührend und erschütternd und beruhigend in einem ist, wie die fromme Einheitlichkeit, die sich aus tastendem Mühen der Schwere zu einer graziösen und fast eleganten Leichtigkeit, von der Säule zum schlanken Stab, vom Rundbogen zum dünnen Maßwerk entwickelt.

  Die Regel der Mönchszeit hat dem Bauwerk seine Räume und seine Gliederung gegeben, Refektorium, Kapitelsaal, Wandelhalle, gab ihm auch seine Anekdoten, den einzigen kleinen heizbaren Erholungsraum in der riesigen Anlage – die Kirche bewahrt die Erinnerungen blühenden handwerklichen Könnens: Gestühl, dessen Wangen mit köstlich unbefangenen Novellen der Bibel und des Weinbaus geschnitzt sind, einen gewaltigen gotischen Kruzifixus aus Stein, Ende des 15. Jahrhunderts, das Werk eines Steinmetzen, dessen Nachfahren noch heute in der Gegend Steinmetzen sind. Als die Württemberger Herzöge 1504 das Kloster an sich rissen und später säkularisierten, ließen sie es doch seinem frommen Beruf. Denn nun wurde es in er Mitte des 16. Jahrhunderts zur evangelischen Klosterschule, zum „Seminar“ – eine der Stätten, da Württemberg seine begabten Söhne auf Staatskosten für das theologische oder klassische Studium vorbereitet. Aus Hermann Hesses Buch „Unterm Rad“ weiß man jetzt auch außerhalb Schwabens etwas vom „Landexamen“; noch Eindringlicheres kann man in Hermann Kurzens Meisternovelle „Die beiden Tubus“ darüber lesen – beide Dichter gehören übrigens auch zur Chronik von Maulbronn.

  Das ist das Reizvolle, gleich Blaubeuren und Schöntal, wie die katholische Tradition in eine evangelische abbiegt und die Werke frommen Mönchtums, die Zeugnisse künstlerischer Gestaltung, von einer nicht minder wertvollen Luft geistigen Lebens umgeben sind. Die jungen Buben, die nun herumliefen, zuerst auch in einer Kutte, einer dunklen Schülertracht, stehen in herber Schulzucht; es ist ein meist erlesenes Material, jährlich dreißig der gescheiteren Schwabensöhne, die hier unter dem „Ephorus“ mit ein paar Professoren und „Repetenten“ Latein, Griechisch, Hebräisch, Philosophie betreiben, um nachher das Tübinger „Stift“ zu beziehen – die Tradition ist geschlossener als bei den mitteldeutschen „Fürstenschulen“, an die man denken mag. Man mag auch ein Beispiel anderwärts sehen, Rugby, Harrow, Eton – diese sind aus dem englischen Kulturleben nicht zu streichen. Das Schwäbische in seiner sonderlichen Prägung ist ohne diese Seminare nicht vorstellbar.

  Ist der Klosterbau selber höchste Leistung der Baukunst, so der weite Klosterhof ins Behagliche gewendete Romantik, allerhand Fachwerkbau, herrischer und bescheiden gedrückter, den riesigen Platz umgrenzend, Tor und Turm, steile Stiegen, überhöhte Fensterbänke, eine gewaltige steinerne Zehentscheuer, der Fruchtkasten, der Schmied, der Wagner, der Apotheker, der Buchbinder, der Metzger, Vogelbeerbäume mit glänzender Frucht, Kinderspiel und bedächtiger Männer Redetausch – eine kleine Welt, die Idylle an Idylle reiht, eine Welt, die doch nicht klein ist, weil der Atem der Geschichte sie anbläst. Jugendparadies oder Jugendzwang von Hunderten schwäbischer Pfarrer – eben in jenen Tagen war eine „Promotion“ zur fünfzigsten Wiederkehr ihres Abschieds beisammen, Landpfarrer zumeist – die alten Herren im Abglanz der Kindererinnerung waren rührend. Sie waren keine Ausbrecher, sie blieben im Land und Dienst – hier in dem Hof ist es lockend, mancherlei Lebensläufen nachzuhängen, deren Anfänge er umzirkt hatte.

  Da sind nicht nur Kepler und Hölderlin, da ist Schelling, da der in Württemberg fast etwas fremdartige Herwegh (man kann ihn nicht gut ins Maulbronnische übersetzen), da ist Friedrich Reinhard, von dem der Ephorus launig meinte, daß er es von allen Zöglingen „am weitesten gebracht“ habe: zeitweiliger Außenminister der französischen Republik, napoleonischer Diplomat, der Gesandte der restaurierten Bourbonen am Frankfurter Bundestag, Pair von Frankreich und ehemaliger Vikar von Balingen!

(In: Badische Neueste Nachrichten, Karlsruhe, 39. Jg., Nr. 4, 28. Jan. 1984)

 

       
   
             
   
           
 

     
   
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