RADEGUNDE (Radegundis, frz. Radegonde), fränkische
Königin, Heilige (Fest: 13. August), * 518/520,
Erfurt, † 13.8. 587, Poitiers. - Tochter des Königs
Berthachar (Berthar) von Thüringen, der als Sohn
des Königs Basinus seit etwa 500 gemeinsam mit
seinen Brüdern Baderich und Hermenefried (Irminfried)
in Thüringen herrscht.
Um 530 überfällt Hermenefried auf
Anraten seiner Gattin Amalberga, einer Nichte des Ostgotenkönigs
Theoderich, Berthachars Burg Isenstein, ermordet den
König und nimmt seine Kinder gefangen. R. und ihr
Bruder werden auf die Burg Seithungi (Burgscheidungen)
gebracht, wo sich R. mit Hermenefrieds Sohn Amalafried
anfreundet. Wenig später überfällt Hermenefried
zusammen mit dem Frankenkönig Theuderich von Reims,
einem Sohn Chlodwigs, seinen Bruder Baderich, ermordet
ihn und reißt sein Reich an sich, ohne Theuderich
den versprochenen Anteil abzutreten. Dieser wagt es
erst nach dem Tod des Ostgotenkönigs Theoderich
(531), die entgangene Beute zu holen, indem er sich
mit seinem Bruder Chlothar I. (Chlothachar) verbündet.
Nach der Niederlage der Thüringer an der
Unstrut wird Hermenefried den Franken tributpflichtig;
später läßt ihn Theuderich bei einem
Besuch in Zülpich von der Stadtmauer stürzen
(533/534). Seine Frau Amalberga entkommt mit Amalafried
nach Byzanz, R. und ihr Bruder werden von den Franken
nach Neustrien auf das königliche Landgut Athies
bei Péronne an der Somme verschleppt. Hier lernt
R. die lateinische Sprache, liest Kirchenväter
und Dichter und widmet sich der Pflege und dem Unterricht
armer Kinder.
Nach dem Tod seiner vierten Gattin, der Königin
Ingunde (vor 540), erzwingt Chlothar I. die Heirat mit
R., nachdem er kurz zuvor die zehn und sieben Jahre
alten Söhne seines verstorbenen Bruders Chlodomer
eigenhändig erdolcht und den eigenen rebellierenden
Sohn samt seiner Familie in ihrem Haus verbrannt hat.
Nach erfolgloser Flucht der Braut findet die Hochzeit
in Vitry (Artois) statt.
Auch als Königin lebt R. am Hof in Soissons
asketisch, beschenkt die Kirche, bemüht sich um
Aufhebung von Todesurteilen, pflegt Kranke. Als Chlothar
I. um 550 als Vergeltung für einen Aufstand der
Thüringer R.s Bruder ermordet, flieht sie nach
Noyon und läßt sich von Bischof Medardus
zur Diakonin weihen. Anschließend begibt sie sich
auf das königliche Landgut Saix (im Grenzgebiet
zwischen Touraine und Poitou) und gründet hier
eine freie Gemeinschaft von Frauen zur Pflege Kranker
und Notleidender. Durch Vermittlung von Bischof Germanus
von Paris kann R. 552 mit Zustimmung Chlothars vor den
Mauern von Poitiers das Kloster Ste-Marie-hors-les-Murs
(später Ste-Croix) gründen, setzt ihre Adoptivtochter
Agnes als Äbtissin ein und leistet selbst die niedrigsten
Dienste im Kloster.
Nach dem Tod Chlothars I. (561) kann R. ihre
religiöse Tätigkeit ungehindert fortsetzen.
Um 567 kommt der italienische Dichter und Priester Venantius
Fortunatus († 609) nach Poitiers, wird zum engen
Vertrauten der Königin und der Äbtissin Agnes,
die für ihn "Mutter und Schwester" bedeuten
(mater honore mihi, soror autem dulcis amore),
und nimmt gegenüber Königen und Würdenträgern
die Interessen des Klosters wahr.
Als auf R.s Bitten das byzantinische Kaiserpaar
Justin II. und Sophia 569 einen Splitter vom Heiligen
Kreuz nach Poitiers sendet, benennt R. ihre Abtei um
zu Ste-Croix. Venantius verfaßt zu diesem Ereignis
mehrere Hymnen, darunter "Pange lingua gloriosa"
und "Vexilla regis" sowie ein Lobgedicht auf
das Kaiserpaar. Anläßlich einer Reise nach
Arles zusammen mit Agnes (570) lernt R. die Ordensregel
des Caesarius von Arles († 542) kennen, die dieser
bedeutendste Förderer des südgallischen Mönchtums
für das von seiner Schwester Caesaria geleitete
Kloster St-Jean ausgearbeitet hat, und reformiert danach
ihr eigenes Kloster, um den Machtansprüchen des
Bischofs Maroveus von Poitiers zu begegnen. R., die
sich in ihren letzten Lebensjahren an strenge Klausur
hält, stirbt am 13.8. 587 und wird in der Krypta
ihrer Klosterkirche (später Ste-Radegonde) beigesetzt.
Anwesend ist auch der mit ihr befreundete Gregor von
Tours, der später ihr Begräbnis beschreibt.
Bei der Öffnung des Grabes 1012 soll der
Leichnam intakt erhalten gewesen sein. 1562 wird das
Grab von Hugenotten aufgebrochen und geplündert,
die Gebeine werden teilweise verbrannt. R. ist Patronin
von Poitiers, des Jesus College in Cambridge, der Weber
und Töpfer, gegen Wassergefahren, Aussatz, Geschwüre,
Krätze, Grind und Fieber bei Kindern. Ihr Kult
verbreitete sich vor allem in Frankreich, dann in England,
Süddeutschland und Österreich. Dargestellt
wird R. als Äbtissin und Klosterfrau, als Gründerin
mit Kirchenmodell, mit Buch und Geißel und der
Krone zu ihren Füßen. Als Biograph wird Venantius
zum wichtigsten Zeugen von R.s Wirken. Von seiner Hand
stammt neben etlichen Gelegenheitsgedichten an R. auch
die Elegie "Vom Untergang Thüringens",
in der er nach R.s Angaben den Überfall der Franken
in ihrer Jugendzeit schildert.
Ein anderes Bild vermittelt die zweite, etwas
jüngere, von der Nonne Baudonivia verfaßte
Vita, die um 600 im Kloster Ste-Croix lebt, eine "persönliche
und alltagsnahe Darstellung" (Wittern), die R.
als Bekehrerin der Franken, als Gründerin und geistliche
Leiterin des Klosters zeigt, die sich nicht scheut,
mit ihren Predigten für die Nonnen das Lehrverbot
für Frauen zu übertreten (zur hagiographischen
Typisierung vgl. Gäbe; beide Viten verarbeitet
von Hildebert von Le Mans). In den Martyrologien ist
R. seit Beda verzeichnet (danach Rabanus Maurus, Wandalbert
von Prüm, Usuardus, Notker).
Aus: Biographisch-Bibliographisches
Kirchenlexikon, Band XXII (2003) Spalten 1131-1135,
Traugott Bautz Verlag, Autor: Bruno W. Häuptli
Literatur (Auswahl) aus ebd.
R. Aigrain, Sainte Radegonde (vers
520-587), Paris 1918 (Reprints Poitiers 1952, Parthenay
1987)
S. Gäbe, Radegundis: sancta,
regina, ancilla. Zum Heiligkeitsideal der Radegundisviten
von Fortunat und Baudonivia, in: Francia 16/1, 1989,
1-30 (zu Stilisierung und Typisierung in der Hagiographie)
D. Kleinmann, Radegunde: eine europäische
Heilige: Verehrung und Verehrungsstätten im deutschsprachigen
Raum, Graz 1998
C. Leonardi, Fortunato e Baudonivia,
in: H. Mordek (Hrsg.), Aus Kirche und Reich: Studien
zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift
Friedrich Kempf, Sigmaringen 1983, 23-32
M.-L. Portmann, Die Darstellung der
Frau in der Geschichtsschreibung des früheren Mittelalters
(Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 69),
Basel 1958
G. Scheibelreiter, Königstöchter
im Kloster: Radegund († 587) und der Nonnenaufstand
von Poitiers (589), in: MIÖG 87, 1979, 1-37 (feinsinnige
Analyse der Persönlichkeit R.s)
S. Wittern, Frauen zwischen asketischem
Ideal und weltlichem Leben: Zur Darstellung des christlichen
Handelns der merovingischen Königinnen Radegunde
und Balthilde in den hagiographischen Lebensbeschreibungen
der 6.-7. Jhs., in: W. Affeldt / A. Kuhn (Hrsg.), Frauen
in der Geschichte VII: Interdisziplinäre Studien
zur Geschichte der Frauen im frühen Mittelalter:
Methoden, Probleme, Ergebnisse (Geschichtsdidaktik:
Studien, Materialien, 39), Düsseldorf 1986, 272-294
S. Wittern, Frauen, Heiligkeit und
Macht: lateinische Frauenviten aus dem 4. bis 7. Jahrhundert
(Ergebnisse der Frauenforschung, 33), Stuttgart 1994,
89-97
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